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03/04/89 30 Years Later: No more shooting/Aufhebung des Schießbefehls

text, letter

Text auf deutsch

The order that never was

The legal processing of the order to shoot at the Berlin Wall, has been a breaking test for the unified society that was just about to emerge. A lot has been left unsaid and buried deep in some archive. Bit by bit proof and details regarding the order to shoot emerged. In the 1990s a lot of the people actually responsible – not neccessarily those pulling the trigger – flat-out denied the existence of such an order, but in the meantime written orders were found and no-one in their right minds doubts their existence.

For a long time the order 39/60 (from 1960, so even before the Berlin Wall was built) has been the only document pertaining to the question what soldiers were to do in the case of a break-through. It says, loosely translated: It is possible to use firearms following the relevant. Put like that meant, that after the fall of the wall, more than 100 border guards were facing trial for murder and manslaughter.

Schreiben mit Befehl

Ausschnitt aus dem Schießbefehl an die Grenztruppen

That this order was far from being just a suggestion as they claimed becomes clearer if you look at what Erich Honecker had to say about that in August 1961: “Against traitors and border-violators firearms have to be used. Take all measures that those gangsters are apprehended inside the 100m security zone. It is paramount to create a free field to observe and shoot without hindrance”. At the time Honecker was the secretary for inner security of the central commitee. Pretty obvious, eh?

Let’s take a look at those soldiers that did successfully stop (read: shoot) such criminals. As a reward for such heroic defense of the workers’ and farmers’ paradise you didn’t only get a few days off and written commendations, but even a cash prize, literally a bounty. Before starting their shift the unit’s CO would hold a little speech every day to make sure, everyone is on the same page. So, on the one hand, they delegated responsibility to the lowest rung of the ladder, the actual soldier, on the other hand, they made it explicitly clear what they expected from their soldiers.

They knew though, that wouldn’t look good for the international community, so they asked their soldiers not to shoot at women and children – if practical. This also seems to be the reason that the firing order was explicitly “paused” on occasion, at least in Berlin, for example during the final negotiations of the Helsinki Conference in 1973. Like its introduction, the end of the shooting order was a rather informal event.

In 1988 GDR defense minister Heinz Keßler said in an interview “such an order never existed”, which led to Honecker (by now head honcho of the socialist party and the state) declaring (and I paraphrase) “Well, if the defense minister says there is no order to shoot, we can’t very well shoot, can we?” He continued to explain, that soldiers should still defend themselves, but rather let some get away – but please don’t talk about it too much. This was on 3.4.1989.

For Chris Gueffroy, the last person to be shot at the border, this change of heart came just a couple of weeks too late.

Der Befehl den es nicht gab – geben durfte

Die (rechtliche) Auseinandersetzung mit den Folgen des Schießbefehls nach dem Fall der Mauer kann getrost als Zerreißprobe für die gerade im Entstehen befindliche Einheitsgesellschaft bezeichnet werden. Vieles blieb lange Zeit im Dunkeln und erst im Laufe der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte sind viele Details und Belege für die tatsächliche Existenz des Schießbefehls ans Licht gekommen.

Während gerade in den 90ern von vielen Verantwortlichen noch versucht wurde die Existenz eines solchen Befehls zu leugnen, ist mittlerweile unstrittig, dass es einerseits eindeutige schriftliche Anweisungen zum Gebrauch der Schusswaffe gab, andererseits aber wurden immer mehr Details aus der praktischen Arbeit der Grenztruppen publik, die das Bild vervollständigten. Bereits 1960 gab es eine schriftliche Anweisung des Innenministeriums, dass bei Grenzverletzungen “unter Einhaltung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden […]” sollte.

Dieser Befehl 39/60 bleibt lange das einzige Schriftstück, das echten Befehlscharakter hat. Alles andere sind Äußerungen in indirektem Zusammenhang. Die Formulierung ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass über 100 Angehörige der Grenztruppen nach der Wende wegen Mordes oder Totschlags verurteilt wurden. Die Argumentation der Gerichte lautet stark vereinfacht gesagt: angesichts der Unrechtmäßigkeit des Schießbefehls hätten Soldaten schlicht den Befehl verweigern müssen.

Die Kehrseite dieser Diskussion ist die Verurteilung des Fluchthelfers Rudolf Müller. Dieser wurde 1999 zunächst wegen Totschlags später wegen Mord an dem Grenzsoldaten Reinhold Huhn verurteilt. Dass die Anwendung der Schusswaffe keineswegs nur Vorschlags-Charakter hatte macht u. a. folgende Äußerung vom August 1961 des damaligen ZK-Sekretär für Innere Sicherheit Erich Honecker deutlich: “Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schußwaffe anzuwenden. Es sind solche Maßnahmen zu treffen, daß Verbrecher in der 100-m-Sperrzone gestellt werden können. Beobachtungs- und Schußfeld ist in der Sperrzone zu schaffen.

Noch klarer wird die Situation wenn man sich anschaut, was mit Grenzsoldaten geschah, die im Dienst tatsächlich Menschen mit der Schusswaffe aufgehalten haben (soll heißen: erschossen). Zur Belohnung für diese heldenhafte Abwehr von Gefahren für das Arbeiter- und Bauernparadies DDR winkten nicht nur Sonderurlaub und explizite Belobigungen, sondern sogar Bargeldprämien. Bei der sog. Vergatterung bei Dienstantritt wurden Soldaten täglich darauf geeicht “Die Haltung zum Grenzverletzer als Feind des Sozialismus und jedes Grenzsoldaten ist konsequent zu entwickeln.” 

Bei aller martialischer Wortwahl und Hetze war sich die DDR-Führung durchaus darüber im Klaren, dass die (insbesondere westliche) Öffentlichkeit die Sache vielleicht etwas anders sah. Mit Ausnahme einer Spezialeinheit des MfS (Ministerium für Staats-Sicherheit – Stasi) waren Grenz-Soldaten angehalten nicht auf Frauen und Kinder zu schießen, um den Ansehen der DDR nicht zu schaden. Das scheint auch der Grund zu sein, dass der Schießbefehl zumindest in Berlin gelegentlich explizit “pausiert” wurde, so z.B. während der abschließenden Verhandlungen der Helsinki-Konferenz im Jahr 1973.

a group of people in uniform

Truppenbesuch- Der Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, Erich Honecker. Quelle Bundesarchiv

Ähnlich wie die Einführung erfolgte auch die Aufhebung des Schießbefehls auf eher informellem Wege und blieb damit bis zum 28. April auch inoffiziell, d.h. man schoss nicht, ließ die Leute nach wie vor im Glauben, dass geschossen würde.

Bezugnehmend auf ein Interview des Verteidungsministers  Heinz Keßler der 1988 behauptete, es hätte “nie einen Schießbefehl gegeben”, ließ dessen Stellvertreter Fritz Streletz am 03. April 1989 sinngemäß vernehmen: “Wenn der Verteidigungsminister sagt, es gibt keinen Schießbefehl, dann können wir an der Grenze nicht schießen”. Also sei von nun an nur noch dann zu feuern, wenn das eigene Leben in Gefahr ist, und man möge “lieber einen Menschen abhauen lassen”, als zu schießen. Allerdings war davon abzusehen, das an die große Glocke zu hängen.

Für den letzten Mauer-Erschossenen Chris Gueffroy kam diese Wohltat leider einige Wochen zu spät.

Zitate sind weitgehend dem Wikipedia-Beitrag zum Schießbefehl entnommen. Einen interessanten Artikel von Hans-Hermann Hertle zum Thema Schießbefehl bzw. Sicherheit vor dem Hintergrund der Weltjugendfestspiele 1973 könnt Ihr hier nachlesen. Ursprünglich erschienen am 28. März ’99 in der Morgenpost. Noch mehr zum Schießbefehl und der Mauer allgemein erzählen wir Euch z.B. auf unseren Zeitzeugentouren oder der regulären Mauertour.