Unterwegs: Der jüdische Friedhof Weißensee
Auch wenn der ein oder andere das vielleicht etwas morbide findet, gehören für den Autor die Berliner Friedhöfe fest zum Spaziergangsprogramm. In nahezu jedem Kiez finden sich diese innerstädtischen Oasen der Ruhe. Durch hohe Mauern vom Straßenlärm abgeschottet, bieten sie zahlreichen Wildtieren eine Heimat und den Berlinern Raum, um mal runter zu kommen. Während an mancher Stelle genügend berühmte Berliner Gruft an Gruft liegen, um einen halben Stadtplan mit Straßennamen zu versorgen, ziehen andere einen durch ihre malerische Ästhetik des Verfalls in den Bann. Einen ganz besonderen Platz in dieser Reihe nimmt der jüdische Friedhof in Weißensee (google maps) ein, dem wir Anfang März an einem der ersten frühlingshaften Tage einen Besuch abgestattet haben. Verwunschen, überwuchert und malerisch verfallen liegt dieser zwar abseits der meisten Touren (Osten ungeschminkt), ist aber auf jeden Fall einen Besuch wert.
Der jüdische Friedhof in Weißensee ist groß, sehr groß sogar (und ja, bevor mir die Hamburger zuvorkommen: Ohlsdorf ist viel größer); mit knapp 120.000 Gräbern und 42 Hektar Fläche ist es der größte erhaltene jüdische Friedhof Europas. Eingerichtet wurde der Friedhof gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als der Friedhof an der Schönhauser Allee, der nur 300 Meter von unserem Standort in der Kulturbrauerei entfernt liegt, zu voll wurde. Im Gegensatz zu heute praktizierten, christlichen Begräbnisbräuchen sieht das Judentum nicht vor, Gräber neu zu “belegen”, jüdische Tote ruhen bis zum letzten Tag in heiliger Erde.
Auch ohne großes Hintergrundwissen fallen ein paar Dinge bzw. Unterschiede zu christlichen Friedhöfen auf. So sind nahezu alle Grabsteine aus dunklem Stein, was die Atmosphäre schon etwas düsterer macht. Hinzu kommt noch die Gedenkstätte direkt am Eingang und die Tatsache, dass hier hunderte Juden beerdigt sind, die sich in der Nazizeit aus Verzweiflung das Leben genommen haben. In einem offenen Kreis sind Steine mit den Namen der wichtigsten Konzentrations- und Vernichtungslager angeordnet – eine Nomenklatur des Grauens, die zumindest mich nie unberührt lässt.
Ein weiterer Unterschied ist die fast vollständige Abwesenheit figurativen Grabschmucks, keine Engel, Tauben oder Gesichter der Verstorbenen, die sonst so häufig sind. Lediglich die segnenden Hände der Kohanim, den Davidstern oder einen Palmwedel sieht man gelegentlich, wobei diese meist eine spezielle Bedeutung haben, z. B. auf eine bestimmte Herkunft oder Stellung in der Gemeinde verweisen. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sahen alle jüdischen Gräber nahezu gleich aus: schwarze Steine, entweder aufrecht stehend bei den azkenasischen und liegend bei den sephardischen Juden, mit einer simplen hebräischen Inschrift, die lediglich den Namen und die Lebensdaten des Verstorbenen enthüllt. Mit der zunehmenden Integration der jüdischen Gemeinde und vor allem der gestiegenen wirtschaftlichen Bedeutung wandelt sich dieses Bild nach und nach. Prachtvolle Grabmale waren in der Gründerzeit ein mächtiges Symbol für die eigene gesellschaftliche Stellung. Deswegen wurden Grabmäler und Gruften häufig schon zu Lebzeiten in Auftrag gegeben. Und da man hinter den christlichen Erfolgsmenschen im kaiserlichen Deutschland nicht hintenanstehen wollte, wurden auch auf den jüdischen Friedhöfen die Gräber der Wohlhabenden immer aufwendiger und prachtvoller.
Möglicherweise ist diese Entwicklung auch die Ursache für die auffallend moderne und teils avantgardistische Typographie auf vielen Grabsteinen. So konnte man seine Verbundenheit zur Moderne und seinen weltlichen Status demonstrieren, dabei aber weiterhin bescheidene Zurückhaltung wahren.
Statt Blumen legt man bei einem Besuch kleine Steinchen oder auch ein Herz auf das Grab und eine Grabpflege im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Das ist auch der Hauptgrund dafür, wieso jüdische Friedhöfe fast immer besonders schön überwuchert sind.
Mehr Informationen zu der wechselhaften Geschichte des Friedhofes findet Ihr z. B. bei der Jüdischen Gemeinde oder der Wikipedia. Eine Übersicht des auf jüdischen Friedöfen häufigsten Grabschmucks mit seiner Bedeutung findet Ihr z. B. hier (PDF).
Einer der berühmtesten “Bewohner” ist übrigens der Maler Lesser Ury, dessen düster verspiegelte Stadtbilder einen ganz besonderen, impressionistischen Blick auf Berlin warfen. Ein paar seiner Werke kann man dauerhaft in der Berlinischen Galerie in Kreuzberg bewundern.
Mehr Bilder:
Unser geschätzter Freund, Grafiker und Photograph Thore hat uns begleitet und auch ein paar Bilder gemacht, diese aber in s/w bearbeitet – anders, aber auch sehr schön.