Radtour von Hohenschönhausen bis Wuhlheide
Radtour von Hohenschönhausen bis Wuhlheide
Von der Platte in die Wildnis
Bei unserer letzten Radtour hat mal wieder Wollo die Tour für uns geplant und akribisch vorbereitet. Wir wissen nur, dass wir am S-Bahnhof Hohenschönhausen starten und an der Wuhlheide enden und dass es nach Wollos Worten “rattenschön” wird. Aha. Ich tippe auf Plattenbauten und Industriebrachen, aber gibt es ganz im Osten der Stadt noch mehr? Ich kann schon mal so viel verraten: Ja, und diese Tour wurde ziemlich wild. Zum selber Radeln braucht man für diese Tour etwas mehr Abenteuergeist als sonst und ein geländegängiges Fahrrad wie z. B. ein Mountainbike. Die Komoot-Route findet ihr wie immer am Ende des Artikels.
Großsiedlung Hohenschönhausen
Los geht es, wie erwartet mit Plattenbauten. Wir befinden uns in der Siedlung Neu-Hohenschönhausen, die zwischen 1984 und 1989 gebaut wurde und bereits vorab durch die Straßenbahn von Alt-Hohenschönhausen und die neu eröffnete S-Bahn-Station Hohenschönhausen erschlossen wurde. Die Grundsteinlegung erfolgte durch den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, was zeigt, wie wichtig diese Bauvorhaben in der von Wohnungsmangel geplagten DDR waren. Trotz zum Teil heftiger Kritik aus der Provinz wurde Berlin als Hauptstadt und Schaufenster der DDR in vielen Bereichen wirtschaftlich bevorzugt. So kamen viele der Bauarbeiter der Siedlung aus den Bezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg (heute Mecklenburg-Vorpommern). Als Hommage und Dank an die Bauarbeiter wurden die Straßen im Viertel nach deren Heimatorten benannt und so bekam das Gebiet um die Zingster Straße auch den inoffiziellen Namen Ostseeviertel.
Hier findet man vorwiegend 6- oder 11-Geschosser, die teilweise erst 2 bis 3 Jahre nach dem Bau bezogen werden konnten, da durch den steigenden Grundwasserspiegel die Keller voll liefen. Dieses Problem besteht übrigens zum Teil in Berlin bis heute, da das Grundwasser durch einen immer geringeren Wasserverbrauch weiter ansteigt.
Im Zentrum des Viertels am Prerower Platz befand sich das Handelshaus, das nach der Wende durch das Einkaufszentrum Linden-Center ersetzt wurde. Die DDR überlebt hat dagegen der sogenannte “Dienstleistungswürfel”, hier befanden sich traditionell eine Poststelle, der Friseur und Blumenladen. Heute findet sich hier u. a. die Tiertafel. Die Altbauten im Osten Berlins waren heruntergekommen und hatten oft nur Ofenheizung und teils das Klo auf dem Treppenabsatz (mehr darüber könnt ihr auch auf unserer Tour “Berlin im Überblick” im Prenzlauer Berg erfahren). Dementsprechend begehrt waren die Wohnungen in den neu gebauten Großsiedlungen, die vor allem an junge Familien vermietet wurden.
Kiezcontainer Howoge
Nach der Wende änderte sich auch das Schicksal der vorher so begehrten Plattenbausiedlungen. Mehr darüber erfahren wir an unserem nächsten Stopp, an dem eine Überraschung auf uns wartet. Wollo hat uns sozusagen einen “Gastreferenten” eingeladen. Unser Guide Gilles betreut hier ein Pilotprojekt der Wohnungsbaugesellschaft Howoge – den Kiezcontainer.
Der Kiezcontainer befindet sich in der Anna-Ebermann-Straße – in einem Bau-Container. Von hier aus betreuen Gilles und ein Kollege einen Kiez, in dem 3000 Menschen leben. In den 90er Jahren veränderte sich die soziale Mischung in der vorher homogenen Siedlung, hinzu kamen viele neue Bewohner mit Migrationshintergrund. Damit entstanden Konflikte mit den Alt-Mietern und dadurch dass niemand den externen Dienstleistern der Wohnungsgesellschaft auf die Finger schaute, verschlechterte sich das Wohnumfeld. Mit dem Kiezcontainer setzen sich Gilles und seine Mitarbeiter mit einer Vielzahl von Aktionen für ein besseres Zusammenleben im Kiez ein. Gilles kann dabei auf seine langjährige Erfahrung als Leiter eines vielfach ausgezeichneten Kiezprojekts im Neuköllner Rollbergviertel zurückgreifen. Die Jungs vom Kiezcontainer stehen den Bewohnern mit Rat und Tat zur Seite, so zum Beispiel bei Problemen mit Anträgen, sie vernetzen Akteure im Kiez und setzen gemeinsam mit den Bewohnern Spielregeln durch, die für alle gelten. Als Hauptthemen in der Nachbarschaft bezeichnet er “Kinder, Lärm und Müll”. Das letztere gehen sie vor allem zusammen mit den Hausmeistern an und wie zum Beweis, dass ihre Arbeit Früchte trägt, brummt im Hintergrund der Rasenmäher. Danke an Gilles für den tollen Einblick und viel Erfolg weiterhin für dieses spannende Projekt!
Güteraußenring
Von hier aus lassen wir die Plattenbauten erstmal hinter uns und bewegen uns ab jetzt immer wieder an Bahnanlagen entlang. Beim nächsten Stopp im hohen Gras vor den Bahngleisen fragt uns Wollo, ob wir mitten in Berlin auf der Stadtbahn schon mal Güterzüge gesehen haben. Nicht so richtig, wenn man sich’s mal überlegt. Aber woran liegt das? Wir tauchen also, wie schon häufiger in der Vergangenheit in die interessante Bahngeschichte Berlins ab. Schon Ende des 19. Jahrhunderts bestand beim Militär der Wunsch, die Bahnlinien, die Berlin strahlenförmig verlassen, durch einen Ring zu verbinden. Dies war auch für den Güterverkehr interessant, da die Linien in der Stadt bereits durch Personenzüge an der Kapazitätsgrenze angelangt waren. Ein weiterer Grund war, dass Gefahrgüter wegen der damals häufiger vorkommenden Bahnunglücke lieber nicht durch das dicht besiedelte Zentrum transportiert werden sollten. Erste Planungen nach dem ersten Weltkrieg wurden durch das Inflationsjahr 1923 gestoppt. Nachdem das Vorhaben in der Nazizeit mit den Planungen zur Welthaupt Germania wieder aufgenommen wurde, kam es wegen des Kriegsbeginns zum erneuten Baustopp. Im Jahr 1940 wurde der Güteraußenring dann als kriegswichtiges Bauvorhaben eingestuft und “ohne Rücksicht auf die Grundeigentumsverhältnisse” durchgeführt, das heißt, dass bei Wohnhäusern, die auf der Strecke lagen, lediglich eine Frist von einem Monat zwischen schriftlicher Ankündigung und Räumung einzuhalten“ war. Ganz schön hart für die Bewohner. Die Strecke zwischen Teltow und Karow wurde so schon im Herbst 1941 fertiggestellt. Die heutige Streckenführung des Berliner Außenrings stammt von 1955 und verläuft bis zu 750 Meter weiter westlich.
Papenpfuhlbecken
Neben den Bahnanlagen finden wir einen kleinen See, das Papenpfuhlbecken. Das Rückhaltebecken ist allerdings einen wasserwirtschaftliche Anlage und darum nicht zum Baden da. Drumherum führt ein kleiner Trampelpfad. Weil es sich nicht um einen öffentlichen Park handelt, ist kein Grünflächenamt für die Anlage zuständig und das sieht man auch. Es sammelt sich Müll im und um den See herum an und die Pflanzen wuchern wild vor sich hin. In 2019 gab es hier einen Arbeitseinsatz der Jungen Tauchpioniere, die regelmäßig kleinere Gewässer aufräumen und deren Logo immer noch stark an das der Jungpioniere in der DDR erinnert.
Orwo-Haus
Unser nächster Halt ist wieder eine Platte, allerdings eine ganz besondere. Wir stehen vor dem ORWO-Haus an der Landsberger Allee. Das Gebäude aus den 80ern war bis zur Wende ein Standort des Filmherstellers ORWO. ORWO (Akronym für Original Wolfen) hatte in der DDR das Monopol für die Filmherstellung und seinen Hauptsitz in Wolfen bei Bitterfeld. Nach Ende der DDR ging das Gebäude an die Treuhandliegenschaftsgesellschaft (TLG), die wir als Besitzer unseres Hauptquartiers in der Kulturbrauerei auch kennen. Da sich für das ORWO-Haus kein Käufer fand, wurden Teile als Lagerräume zwischen genutzt, ab 1994 mieteten sich dann diverse Bands ein. Durch seine isolierte Lage im Gewerbegebiet eignet es sich hervorragend für Proberäume, da man keine Anwohner stört. Viele der Bands richteten sich ihre Räume aufwändig her, zum Teil mit Tonstudios. Das Gebäude zog ca. 400 Musiker an. 2004 stellte dann das Bauamt gravierende Mängel beim Brandschutz fest und die TLG kündigte alle Mietverhältnisse fristlos. Anschließend kam es zu lautstarken Protesten mit Besetzung der Landsberger Allee im Berufsverkehr und der Besetzung des Objekts. Dadurch zog das Projekt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und Politik auf sich. Thomas Flierl, der damalige Kultursenator, verhandelte persönlich mit der TLG und so konnte der Konflikt 2005 gelöst werden. Der eigens gegründete gemeinnützige Verein ORWOhaus e.V. erwarb das Gebäude und konnte mit Mitteln der Deutschen Klassenlotterie die Brandschutzauflagen 2006 erfüllen. Das ORWO-Haus ist mit 100 Proberäumen und 700 Musikern in ca. 200 Bands, das größte selbst verwaltete Objekt dieser Art in Europa. Wenn nicht gerade Corona ist, finden hier auch Festivals und Veranstaltungen statt. Auch jetzt schallt die Musik aus einigen Fenstern und wir hören, dass sich das Gebäude seinen Beinamen “die lauteste Platte Berlins” redlich verdient hat.
Springpfuhl
Wir radeln weiter zum Plattenbaugebiet um den Springpfuhl. Das an der Allee der Kosmonauten gelegene Gebiet bildet das Eingangstor zum Bezirk Marzahn. Rund um das Zentrum am Helene-Weigel-Platz befinden sich eine Schwimmhalle, ein Theater, das ehemalige Rathaus Marzahn, eins von nur 3 neu gebauten Rathäusern in der DDR, das heute als Bürgerhaus dient, und ein täglich stattfindender Markt. Die Wohnhäuser wurden hier ab 1977 errichtet, sind also mittlerweile über 40 Jahre alt. Das Gebiet entstand nach Planungen u. a. von Heinz Graffunder, einem der bekanntesten Architekten der DDR, der auch Chefarchitekt beim Bau des Palastes der Republik war. Auf dem Weg durchs Viertel, umrunden wir den Springpfuhl, mit dem um den See liegenden Park und den zum Teil beeindruckend hohen Häusern kann man auch deutlich schlechter wohnen. An der Allee der Kosmonauten schauen wir noch bei dem Denkmal vorbei, das an den Bau der Siedlung erinnert. Sehr versteckt zwischen mehreren Hochhäusern steht eine Stele mit einem Richtkranz aus Beton. Auf der Tafel daneben findet sich noch ein Gedicht mit der Zeile: “Hoch dem Sozialismus, überall und hier!”. Na dann!
Alte Börse Marzahn
Unser nächster Stopp ist die Alte Börse. Hier befand sich ab 1903 der Magerviehhof Friedrichsfelde – ein Handelsplatz für Schlachtvieh, in dem zu Hochzeiten hunderttausende Tiere den Besitzer wechselten. Geschlachtet wurde hier allerdings nicht, dafür gab es den Zentralviehhof im Prenzlauer Berg an der Grenze zu Friedrichshain. Ab den 20er Jahren siedelten sich andere Firmen an, weil der Viehhandel zurückging. Während der Nazizeit wurde das Gelände durch die Wehrmacht genutzt, nach 1945 dann durch die Rote Armee und der Viehhof wurde geschlossen. Am 17. Juni 1953 gab es hier einen Sammelplatz für die Festgenommenen des Aufstands. Später ging das Gelände an die NVA und die Paraden zum Republikgeburtstag wurden hier jedes Jahr vorbereitet. Der nördliche Teil des Geländes ging dann in den 90ern an die TLG und wurde zum Teil saniert und unter Denkmalschutz gestellt. Hier gibt es seitdem etliche Gewerbebetriebe, eine Zeit lang gab es aber auch Kultur, Events und einen Biergarten und Künstler des Tacheles siedelten sich hier an (einen Blog-Artikel von Sascha aus dieser Zeit findet ihr hier). Das Restaurant und die Event-Location trugen sich leider nicht, vielleicht dann doch zu weit draußen. Es passiert zwar gefühlt ein bisschen auf dem Gelände, aber insgesamt scheint das interessante Areal etwas hinter seinen Möglichkeiten zurückzubleiben.
Biesenhorster Sand
Ab jetzt wird unsere Strecke mal wieder richtig wild, wir radeln durch den Biesenhorster Sand, teilweise zwingt uns der Boden aber auch zum Absteigen. Der Name kommt nämlich nicht von ungefähr, bei dem 108 ha großen Gelände handelt es sich um eine eiszeitliche Sanderfläche. Ab 1953 befang sich hier der Rangierbahnhof Wuhlheide. Außerdem wurde das Gelände von der Sowjetarmee genutzt. Beide Nutzungen endeten 1994 mit dem Abzug der Truppen. Seitdem wurden die Anlagen zurück gebaut und das Gebiet entwickelte sich weitgehend ungestört. Die Trockenrasenflächen können im Sommer mit bis zu 65 Grad über dem Erdboden sehr warm werden und bieten ideale Bedingungen für Eidechsen. Daneben fühlen sich hier noch viele geschützte Insektenarten wohl, die zum Teil in Berlin schon als ausgestorben galten. Darum ist der Biesenhorster Sand seit März 2021 als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Bei dem Namen handelt es sich übrigens um ein sogenanntes Kofferwort aus Biesdorf und Karlshorst, zwischen denen das Gebiet liegt. Die Anwohner nennen das Gelände aber auch Bisie.
Flugplatz Karlshorst
Wir radeln weiter und machen einen Abstecher zu einigen eindrucksvollen Kuppelbauten am Wegesrand. Sie gehörten zum ehemaligen Flugplatz Karlshorst. Werner von Siemens hatte direkt in der Nähe bereits um 1907 eine drehbare Luftschiffhalle bauen und die Siemens-Schuckert-Luftschiffe entwickeln lassen. Im Jahr 1916 entstand dann mitten im 1. Weltkrieg der Flugplatz mit den Kuppelhallen. Die Kuppeln wurden freitragend in Schalenbauweise gebaut, ein Novum in Deutschland, und sind die einzigen erhaltenen Flugzeughangars aus dieser Zeit. Der Flugbetrieb wurde bereits im Jahr 1920 wegen des Versailler Vertrags wieder eingestellt. Die Hallen blieben jedoch über 100 Jahre erhalten und stehen heute unter Denkmalschutz. Das Gelände wurde an Investoren verkauft und es soll die Gartenstadt Karlshorst entstehen. Die Bausubstanz der Hallen sollte darin eigentlich eingebunden werden, verfällt aber zunehmend. Hoffen wir, dass uns diese tollen Zeugnisse der Luftfahrtgeschichte weiter erhalten bleiben. Von hier aus radeln wir noch ein Stückchen an den Bahngleisen entlang bis zu unserem Endpunkt am S-Bahnhof Wuhlheide.
Fazit: Unsere bisher abenteuerlichste Tour hat uns gezeigt, dass es auch um die wenig besuchten DDR-Plattenbau-Viertel im Osten der Stadt herum, viel Interessantes zu entdecken gibt. Und wieder mal staunen wir, was es alles in Berlin gibt, vor allem die Gleiswildnis und das Naturschutzgebiet Biesenhorster Sand haben es uns wirklich angetan. Wenn ihr einmal mit einem Guide zusammen den fernen Osten der Stadt erradeln wollt, schreibt uns einfach eine Mail. Ansonsten findet Ihr hier die Komoot-Route zum selber Radeln.