Eine Stadtrundfahrt mit der Tram M8 – Zu Kosmonauten, Irren und Invaliden
Eine Stadtrundfahrt mit der Tram M8 – Zu Kosmonauten, Irren und Invaliden
Der einzig zugelassene Anbieter von Stadtrundfahrten ist momentan die BVG. Weit über 100 Routen, Bus und Bahn, auch in entlegene Bezirke, aber ohne Kommentare und Erklärungen. Ich entscheide mich für die Straßenbahnlinie M8. Vom Hauptbahnhof Richtung Osten, nach „Ahrensfelde Stadtgrenze“. Radikaler geht´s nicht, vom zentralen Verkehrsknotenpunkt bis an die äußerste Peripherie. 21 Kilometer, 60 Minuten Fahrzeit.
Das geschwungene Betondach der Tram-Haltestelle am Hauptbahnhof soll nach Angaben der Architekten die Bewegung des Fahrgaststroms symbolisieren. Hübsche Idee.
Keine Pannen mehr am Hauptbahnhof?
Um den Hauptbahnhof selbst ist es seltsam ruhig geworden. Als wir mit geführten Fahrradtouren anfingen, war das Gespött über das gestutzte Glasdach in aller Munde – immerhin gelang es so, die Station pünktlich zur Fußball-WM 2006 zu eröffnen. 2007 ließ dann der Orkan Kyrill noch einen tonnenschweren Stahlträger von der Fassade abstürzen. Seitdem hat der BER-Flughafen die Rolle des Unglücksraben bei den Verkehrsbauten übernommen. Die Bahn kommt, ich steige ein.
Auf den ersten zwei Kilometern geht’s nur im Stop and Go voran, die Tram muss sich die Fahrbahn mit den Autos teilen. Wir sind in der Invalidenstraße, benannt nach dem Invalidenhaus von 1748. Hier wurden kriegsverletzte Soldaten medizinisch versorgt. Ein bisschen Heldengedenken also. In Paris gibt es einen Invalidendom und ganz im Norden Berlins eine Invalidensiedlung. Dabei sagt der Begriff einiges über das militärische Menschenbild von damals aus: Invalid heißt ungültig, wertlos.
Weil alle maskiert sind in der Bahn muss ich an Corona denken. Wird es irgendwann eine Infiziertenstraße geben? Zum Gedenken an diejenigen, die sich angesteckt haben? Die Bahn legt sich in die Kurve. Brunnenstraße. Benannt nicht nach irgendeinem Brunnen, sondern dem Gesundbrunnen, gute zwei Kilometer weiter oben, nördlich. Gesundbrunnen. Tatsächlich existierte da mal eine Heilquelle. Es gibt also Hoffnung. Und ein Polizeirevier auf der Ecke, mit runder Plattenbaufassade.
Am quirligen Rosenthaler Platz sind die Gewerbemieten so hoch dass sich nur Imbisse mit viel Umsatz aber fast ohne Sitzgelegenheiten halten können. Vom Lockdown spürt man hier nichts. Die Bahn schwenkt nach links von der Brunnen- in die Torstraße. „Am Brunnen vor dem Tore“ summe ich unter meiner Maske. Alles hängt mit allem zusammen.
Vom Sitz des DDR-Präsidenten zum Luxushotel
Ecke Prenzlauer Allee links ein markantes, hell strahlendes Gebäude mit gerundeten Fassaden. Einst der Amtssitz des ersten und einzigen Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck. Heute ein Hotel, Soho House. Was für total durchgeknallte Leute mit zu viel Geld, teuer und schräg, heißt es.
Hinter dem Platz der Vereinten Nationen, früher Leninplatz, geht’s bergan, hinaus aus dem Berliner Urstromtal auf die Hochfläche des Barnim. An der Ecke Danziger Straße das „SEZ“. Sport und Erholungszentrum. Einst ein Vorzeigeobjekt der DDR, mit einem quietschorangen Eingangsgebäude das vor 40 Jahren als futuristisch galt. Der Zugang ist verschlossen, Gras wächst auf den Treppen, die Fassade in einem beklagenswerten Zustand.